NIEDERANVEN 11.05.2020
Wie kann der städtische Verkehr entlastet werden? Einige Städte versuchen es mit einem kostenlosen ÖPNV-Angebot, ohne Kritik bleiben diese Maßnahmen jedoch nicht. Ist der Gratis Nahverkehr wirklich die Lösung für den Verkehrskollaps?
Alte Idee, neue Diskussionen
Die Nutzung öffentlicher Nahverkehrsmittel kostenlos anzubieten, ist keineswegs eine neue Idee. Hans Bass von der Hochschule Bremen etwa zeigt auf, dass das Konzept bereits seit den 1970er Jahren thematisiert wurde – unter anderem im Ruhrpott. Die Dortmunder Fahrpreisunruhen von 1971 nahmen dabei wenigstens zwei Aspekte vorweg, die bei heutigen Diskussionen um einen unentgeltlichen Nahverkehr eine Rolle spielen, wenn auch unter veränderten Vorzeichen:
- Die Frage nach dem „gerechten Preis“, die sich bei einem kostenlosen ÖPNV-Angebot eben nicht automatisch erledigt. Im Gegenteil – es geht darum, wie ein solches Angebot (gerecht) finanziert werden soll, damit es für die Nutzer überhaupt gratis sein kann.
- Die Frage nach möglichen Lösungen für Mobilitätsprobleme, insbesondere in der Stadt – und das vor dem Hintergrund der ökologischen Auswirkungen des Stadtverkehrs.
Die Stadt Dortmund im Jahr 1971 weist mit Blick auf die heutige Problematik gleichermaßen Parallelen wie Unterschiede auf. Obwohl zum Zeitpunkt der Unruhen die Wirtschaftswunderjahre vorläufig noch anhielten, war die Wohlstandsgesellschaft noch längst nicht so weit, dass ein eigenes Auto selbstverständlich gewesen wäre.
Nahverkehrsmittel stellten damals also für viel mehr Menschen eine Notwendigkeit dar und das noch aus einem weiteren Grund: Die städtischen Strukturen waren bereits so ausgebildet, wie es auch heute noch der Fall ist. Das heißt, die einzelnen Lebensbereiche – Wohnen, Arbeit, Einkaufen – waren bereits räumlich voneinander getrennt.
Heute wird diese Trennung vorwiegend mit dem eigenen Auto überwunden, das Verkehrsaufkommen ist entsprechend hoch. Innovative Verkehrskonzepte können zwar ihren Teil dazu beitragen, die innerstädtischen Zustände zu entschärfen. Doch begleitende Maßnahmen scheinen sinnvoll, um langfristige Lösungen zu schaffen.
Eine dieser Lösungen steht seit einigen Jahren wieder verstärkt im Fokus – der kostenlose öffentliche Personennahverkehr. Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang jedoch weiterhin stellt: Kann dieses Konzept die gestellten Erwartungen tatsächlich erfüllen?
Pro: Kostenlos, solidarisch, nachhaltig
Selbst in Großstädten, die über ein breit gestreutes ÖPNV-Angebot verfügen, bleiben Autos meist die erste Wahl. Sie sind bequem und gewähren eine Unabhängigkeit, die Bus und Bahn in dieser Form nicht gewährleisten können. Spätestens zu den Hauptverkehrszeiten erweist sich das aber als Nachteil: Ein hohes Aufkommen an Individualverkehr macht ein zügiges Vorankommen schwierig.
Verkehrsverlagerung und Folgeeffekte
Die kostenlose Nutzung der öffentlichen Verkehrsmittel kann deshalb ein Anreiz für einen sogenannten Verkehrsverlagerungseffekt sein: Mehr Menschen wechseln vom motorisierten Individualverkehr zum ÖPNV, die Fahrgastzahlen steigen entsprechend.
Dieser Effekt wirkt sich wiederum in unterschiedlicher Weise aus:
- Weniger motorisierte Fahrzeuge auf den Straßen bedeuten nicht nur einen besseren Verkehrsfluss. Es entstehen außerdem Räume für andere Verkehrsmittel, wie Fahrräder.
- Vom insgesamt geringeren Verkehrsaufkommen profitieren letztendlich alle Verkehrsteilnehmer: Höhere Durchschnittsgeschwindigkeiten bedeuten kürzere Fahrzeiten bis zum Ziel. Dadurch könnten sogar die Betriebskosten des ÖPNV reduziert werden – das hängt jedoch davon ab, wie sich das Nutzungsverhalten verändert: Steigende Fahrgastzahlen relativieren womöglich die Einsparungen durch niedrigere Umlaufzeiten.
- Für Radfahrer wie für Fußgänger besteht außerdem ein geringeres Unfallrisiko – diese neue Sicherheit kann ein weiterer Treiber sein, um alternative Fortbewegungsmöglichkeiten zu nutzen. Gleichzeitig senken geringere Unfallzahlen die Kosten.
Überhaupt sind die Kosten ein wichtiger Faktor. Wenn die Ausgaben für den Unterhalt eines Autos wegfallen und die Alternative kostenlos genutzt werden kann, entlastet das die Haushalte finanziell.
Soziale Mobilität
In der Soziologie ist mit sozialer Mobilität zwar – verkürzt zusammengefasst – die Möglichkeit des gesellschaftlichen Auf- und Abstiegs gemeint, etwa durch berufliche Veränderungen. Im Zusammenhang mit einem kostenfreien ÖPNV könnte der Mobilitätsaspekt jedoch in einem weniger übertragenen Sinne verstanden werden.
Lena Frommeyer, Journalistin und Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Angewandte Wissenschaften Hamburg (HAW Hamburg), rückt den Solidaritätsgedanken in den Vordergrund. Sie argumentiert mit den steigenden Kosten, die in den wachsenden Städten für die Bewohner entstehen: Höhere Mieten einerseits, höhere Ticketpreise andererseits, um aus den günstigeren Stadtrandgebieten in die Zentren zu gelangen.
Im Grunde genommen ist die Gemengelage dadurch wieder ähnlich wie im Dortmund des Jahres 1971, der „gerechte“ Preis bewegt sich nur inzwischen in anderen Dimensionen. Mit kostenlosen Tickets gibt es zumindest im Hinblick auf die Mobilität des Einzelnen weniger soziale Ungleichheit.
Nachhaltige Lösung
Gleichzeitig lässt sich mit der Verkehrsverlagerung zu Gunsten des ÖPNV ein weiteres dringliches Problem der Städte angehen: Umweltbelastungen. Motorisierter Verkehr in den Innenstädten trägt erheblich zur schlechten Luftqualität bei.
Die Bilanz öffentlicher Verkehrsmittel ist in dieser Hinsicht deutlich besser, was sich schon durch das Verhältnis von Fahrzeug zu transportierten Personen erklärt. Dennoch kann der ÖPNV nur ein Teil der Gesamtlösung sein, um in den Städten für sauberere Luft zu sorgen. Eine wirkungsvolle Verkehrswende kann aber nur gelingen, wenn alle verfügbaren Maßnahmen ergriffen werden – und der kostenlose ÖPNV kann eine davon sein.
Contra: Teuer und ohne Erfolgsgarantie
Was die Versuche mit dem kostenlosen ÖPNV in vielen Städten bislang, bei allen Vorzügen des Konzepts, gezeigt haben: Das Gratis-Angebot ist noch keine Garantie für eine erfolgreiche Trendwende. Dass sich die optimistische Erwartungshaltung in der praktischen Umsetzung häufig nicht erfüllt, hat ganz unterschiedliche Gründe.
Selbst, wenn die Fahrgastzahlen nicht die einzige Bemessungsgrundlage für Erfolg oder Misserfolg des kostenlosen Nahverkehrsangebots sind, zeigt das Konzept auch Schwächen.
Wenige neue Nutzer im ÖPNV
Tatsächlich zeigt sich der Verlagerungseffekt bei den Fahrgastzahlen von Stadt zu Stadt in recht unterschiedlichem Ausmaß. Oft liegt der Anteil neuer ÖPNV-Fahrgäste unter dem, was als erheblich betrachtet werden kann: In der estnischen Hauptstadt Tallinn beispielsweise können alle Einwohner Bus und Bahn kostenlos nutzen, schon seit 2013. Gestiegen sind die Fahrgastzahlen seither um 14 Prozent, ein vergleichsweise geringer Wert.
Allerdings waren die Ticket-Preise für weite Teile der Bevölkerung schon vor der Einführung des kostenlosen ÖPNV recht niedrig. So sind es vor allem Erwerbslose und Niedriglohnarbeiter, welche die Möglichkeit für mehr Mobilität bekommen – und nutzen.
Kaum Verkehrsverlagerung
Dieser Effekt ist sicherlich als Erfolg zu werten, er zeigt aber keineswegs eine breite Verkehrsverlagerung, die Befürworter des kostenlosen Nahverkehrs als eines der Hauptziele ausgeben. Womit gleichzeitig das Nachhaltigkeitsziel nicht erreicht werden kann, nämlich die Verringerung von Schadstoffen aus dem motorisierten Individualverkehr.
Kostenlose Tickets allein erweisen sich für viele Autofahrer als zu geringer Anreiz. Meist fällt die Entscheidung wegen der größeren Entscheidungsfreiheit, der höheren Flexibilität und des besseren Komforts immer noch für das eigene Auto.
Soll das Fahrzeugaufkommen im städtischen Verkehr also spürbar reduziert werden, sind dazu in der Regel flankierende Maßnahmen notwendig. Im belgischen Hasselt etwa wurde parallel die Infrastruktur der Stadt weitflächig umgestaltet:
- Die Anzahl der verfügbaren Parkplätze in der Stadt wurde reduziert.
- Parken war zudem nur noch kostenpflichtig möglich.
- Innerhalb der gesamten Stadt wurden Geschwindigkeitsbegrenzungen und Verkehrsberuhigungsmaßnahmen eingeführt.
Auf der einen Seite muss der motorisierte Individualverkehr unattraktiver werden, damit der Umstieg auf den ÖPNV attraktiver wird. Unter solchen Voraussetzungen greift auch der Preisanreiz besser.
Kostenlos bedeutet nicht ohne Kosten
Diese Voraussetzungen müssen allerdings erst geschaffen werden und das verursacht wiederum Kosten. Denn kostenlose Nahverkehrsangebote benötigen für ihre Verwirklichung Investitionen in unterschiedlichen Bereichen. Die Veränderungen bei der Infrastruktur sind nur ein Aspekt, dazu muss außerdem das Angebot der Verkehrsverbände ausgebaut werden: Mehr Haltestellen, eine engere Taktung, ein ausgedehnteres Liniennetz – all das ist zunächst mit Kosten verbunden.
Auf der anderen Seite fallen dagegen die Erlöse aus den Fahrentgelten weg, kostendeckendes Wirtschaften wird für die kommunalen Betriebe zum Problem. Das hängt nicht zuletzt damit zusammen, wie die Verkehrsunternehmen ihre Kapazitäten planen müssen:
- Die Kapazität orientiert sich am Spitzenbedarf, den es zu decken gilt.
- Der Spitzenbedarf hängt mit den Hauptverkehrszeiten zusammen und könnte sich noch steigern, sollten mehr Verkehrsteilnehmer zu diesen Zeiten Bus oder Bahn nutzen.
Ein höheres Fahrgastaufkommen bedeutet vielfach die Notwendigkeit, zusätzliche und gegebenenfalls größere Fahrzeuge anzuschaffen. Die Frage, die sich die Kommunen daher stellen müssen: Sind Kapazitätserweiterungen und Veränderungen der Infrastruktur langfristig finanzierbar?
In vielen Fällen lautet die Antwort nein, weil die notwendigen Mittel nicht aufgebracht werden konnten. Soll der kostenlose ÖPNV funktionieren, müssen nachhaltige Finanzierungsmethoden gefunden werden, um die Kosten für Unterhalt und notwendige Sanierungsmaßnahmen stemmen zu können.
Kostenloser öffentlicher Nahverkehr – eine Frage der Umsetzung
Das Konzept, das Angebot der Verkehrsbetriebe kostenlos zu machen, hat in vielerlei Hinsicht seinen Reiz. Das zeigt sich schon daran, dass sich immer wieder Städte an dieser Aufgabe versuchen, im Inland wie im Ausland.
Erfolg verspricht die Idee aber nur dann, wenn die notwendigen Voraussetzungen für die Umsetzung geschaffen werden. Diese sind nicht nur weitreichend, sondern auch von Stadt zu Stadt verschieden.
Das bedeutet unter anderem, dass jede Stadt unterschiedlich gute Grundbedingungen mitbringt, um den ÖPNV umzugestalten. Kleine und mittelgroße Städte haben gegenüber Großstädten in dieser Hinsicht gewisse Vorteile: Geringere Einwohnerzahlen und ein besser überschaubares Liniennetz machen Anpassungen leichter kalkulierbar.
Dennoch muss die Umsetzung an die jeweiligen Gegebenheiten angepasst werden, das gilt besonders bei den Möglichkeiten, das Konzept zu finanzieren. Letztendlich muss jede Kommune ihren eigenen Weg finden, um den kostenlosen ÖPNV sinnvoll in die Infrastruktur zu integrieren.
Selbst, wenn all das gelingt, bleibt am Ende immer noch die Frage, ob die Idee ausreichend Unterstützung findet. Damit sind nicht allein die potenziellen neuen Fahrgäste gemeint, die nun auf das Auto verzichten. Sondern vor allem auch die politischen Entscheider, die das Konzept mittragen müssen – nicht zuletzt unter Berücksichtigung der möglichen Effekte, die eine derartige Veränderung in anderen Lebensbereichen verursachen kann.
Quellen:
Beispiele
Quelle : https://abes-online.com/publikationen/fachbeitrag/kostenloser-oeffentlicher-nahverkehr/