(29.06.21, von deutscher Welle , Original : hier )
( Serie: Klimamythen im Faktencheck )
1,5 oder 2 Grad Celsius mehr Erderwärmung – manche glauben, der Unterschied ist nicht wirklich bedeutend. Doch die Fakten sprechen eine andere Sprache: Schon ein halbes Grad mehr kann Leben kosten.
Wenn die Temperatur eines Menschen von gesunden 36,6 auf 38,6 Grad Celsius ansteigt, hat das Konsequenzen. Schon ein scheinbar geringer Anstieg führt dazu, dass sich der Mensch unwohl fühlt und der Körper nicht mehr normal funktionieren kann – und ähnlich verhält es sich mit der Erde.
Seit dem späten 19. Jahrhundert, als die Verbrennung fossiler Brennstoffe immer weiter voranschritt, hat sich unser Planet im Durchschnitt um mehr als ein Grad Celsius erwärmt. An einigen Orten sind die Temperaturen über diesen Wert hinaus gestiegen.
Einer von ihnen ist die Arktis. Laut dem Arctic Monitoring and Assessment Programme (AMAP), einer Arbeitsgruppe des zwischenstaatlichen Arctic Council, ist die durchschnittliche Jahrestemperatur in der Region zwischen 1971 und 2019 um drei Grad Celsius angestiegen – das bedeutet große Probleme für das Ökosystem der Region.
Kleiner Temperaturanstieg = große Artenverluste
In einer Studie aus diesem Jahr, die in der Fachzeitschrift “The Cryosphere” veröffentlicht wurde, zeigen britische Forscher den Verlust von 28 Billionen Tonnen Eis zwischen 1994 und 2017 auf. Ihnen zufolge würde das verlorene Volumen ausreichen, um das gesamte Vereinigte Königreich mit einer 100 Meter dicken Eisschicht zu bedecken.
Den Eisbären schmilzt das arktische Eis quasi unter den Tatzen weg – und mit ihm seine Nahrungsgrundlage
Wissenschaftler der britischen Universität Edinburgh, des University College London und der Universität Leeds kamen anhand von Satellitendaten zu dem Schluss, dass in den 1990er Jahren jährlich etwa 800 Milliarden Tonnen Eis verloren gingen. Bis 2017 ist diese Zahl sogar noch gestiegen – auf 1,2 Billionen Tonnen pro Jahr.
Eisbären – fast ausgestorben bis zum Ende des Jahrhunderts?
Steven Amstrup, leitender Wissenschaftler der US-amerikanischen Naturschutzorganisation Polar Bears International, erforscht die Tierwelt in der Arktis seit den 1980er Jahren und hat die Veränderungen mit eigenen Augen gesehen.
“Ich erinnere mich, wie ich damals mitten im Sommer das Meereis vor der Küste Nordalaskas sah – es war nie sehr weit von der Küste entfernt”, sagt er der DW. “Jetzt liegt das Eis zur gleichen Jahreszeit Hunderte von Meilen vor der Küste. Wenn Sie mir zu Beginn meiner Karriere gesagt hätten, dass ich diese Art von Veränderungen sehen würde, hätte ich gesagt, Sie sind verrückt”, erzählt Amstrup.
In einer 2020 im Nature Climate Journal veröffentlichten Studie sagen er und seine Kollegen voraus, dass die meisten Eisbären, die sich von auf dem Eis ruhenden Robben ernähren, bis zum Ende des Jahrhunderts verschwinden könnten, wenn die Temperatur weiter steigt. “Meereis ist wie ein Abendbrottisch für Eisbären”, so Amstrup. “An Land gibt es für sie kaum etwas so Nahrhaftes wie Robben.” Video ansehen 02:09
Arktisforscher warnen vor unaufhaltbaren Klimafolgen
Der Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC) der Vereinten Nationen, besser als Weltklimarat bekannt, sagt voraus, dass die arktischen Tiere bei einer Erderwärmung um 1,5 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau in 99 von 100 Sommern immer noch Meereis haben werden. Bei einem Szenario von zwei Grad Erwärmung wären sie bereits alle zehn Jahre mit eisfreien Sommern konfrontiert.
Eisbären sind jedoch längst nicht die einzigen Opfer des globalen Temperaturanstiegs. Für 19 Prozent der Tierarten auf der Roten Liste der International Union for Conservation of Nature (IUCN) erhöht sich die Wahrscheinlichkeit des Aussterbens.
Opfer des menschengemachten Klimawandels: eine Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte
Eine Art wurde bereits ausgerottet: ein winziges Nagetier namens Bramble-Cay-Mosaikschwanzratte, das auf einer kleinen Sandinsel an der Spitze des Great Barrier Reefs im Nordosten von Australien lebte. Es wurde 2019 offiziell als ausgestorben anerkannt – als erstes Säugetier aufgrund des vom Menschen verursachten Klimawandels. Vermutet wird, dass der steigende Meeresspiegel seine Nahrungsgrundlage und seinen Lebensraum vernichtet hat.
Extreme Folgen unter und über Wasser
Mit der Erderwärmung heizen sich auch die Ozeane auf – mit direkten Auswirkungen auf Korallenriffe, die für viele Meerestiere Kinderstube und Speisekammer sind. Das wärmere Wasser lässt die Korallen die lebenswichtigen Meeresalgen aus ihrem Gewebe ausstoßen – und dann hungern und weiß werden. Länger andauernde Bleiche tötet die Korallen.
Feuerkoralle – ein Vorher-/Nachherbild der traurigen Art
Eine aktuelle Studie hat ergeben, dass das australische Great Barrier Reef seit 1995 auf diese Weise die Hälfte seiner Korallen verloren hat. Der Weltklimarat warnt, dass bei einer Erwärmung von über zwei Grad Celsius die Korallen fast vollständig ausgerottet werden.
Höhere Temperaturen werden auch das Leben der Menschen verändern. Wir werden extremeren Wetterbedingungen ausgesetzt sein – Hitzewellen, Dürren, Überschwemmungen und Wirbelstürmen. Wie extrem und wie oft, das wird davon abhängen, wie sehr die Temperaturen ansteigen.
Wenn sich die Welt bis 2100 um zwei Grad Celsius erwärmt, könnten laut IPCC 37 Prozent der Weltbevölkerung mindestens alle fünf Jahre schweren Hitzewellen ausgesetzt sein. In einem 1,5-Grad-Szenario beträfe dies nur halb so viele Menschen.
Laut einer Studie des Joint Research Center (JRC) des Wissenschafts- und Wissensdienstes der Europäischen Kommission aus dem Jahr 2018 werden mit der Erwärmung der Welt zwei Drittel der Bevölkerung zunehmend Dürren erleben.
Mehr Klimaflüchtlinge
Das UN-Flüchtlingshilfswerk sagt, dass bereits jetzt Extremwetter-Ereignisse und der Anstieg des Meeresspiegels jedes Jahr über 20 Millionen Menschen dazu veranlassen, in andere Teile ihrer Länder zu ziehen. Für kleine Inselnationen im Pazifik, im Indischen Ozean und in der Karibik ist Umsiedlung schon heute ein reales Problem.
“Länder wie die Marshallinseln können Anpassungspläne bis zu einem gewissen Anstieg des Meeresspiegels durchführen”, sagt Helene Jacot Des Combes, Klimawissenschaftlerin an der University of the South Pacific, IPCC-Autorin und Beraterin der Regierung der Marshallinseln. “Aber wenn er weiter ansteigt, werden diese Inseln irgendwann nicht mehr bewohnbar sein.”
Das umgesiedelte Dorf Vunidogoloa auf Fidschi
Auch der pazifische Inselstaat Fidschi ist mit den neuen Realitäten konfrontiert. Nachdem er seit 2016 von zwölf Zyklonen und anderen Extremwetter-Ereignissen heimgesucht wurde, hat die Regierung ein Umsiedlungsprogramm gestartet. Mehr als 40 Küstengemeinden müssen ins Landesinnere umgesiedelt werden, sechs sind den Schritt bereits gegangen.
Angesichts der weitreichenden Folgen eines nur geringen Temperaturanstiegs zielt das Pariser Klimaabkommen letztlich darauf ab, den globalen Anstieg auf 1,5 Grad Celsius in diesem Jahrhundert zu begrenzen. Modellrechnungen deuten jedoch darauf hin, dass die Welt bei der derzeitigen Entwicklung auf dem besten Weg ist, dieses Niveau der Erwärmung bereits innerhalb der nächsten 15 Jahre zu erreichen.
Ohne radikale Maßnahmen heute wird der Temperaturanstieg kaum zu bremsen sein. Laut The Climate Action Tracker (CAT), einer unabhängigen Gruppe von Organisationen, die die Klimamaßnahmen von Regierungen analysiert, würden die Temperaturen selbst dann auf 2 bis 2,2 Grad Celsius bis zum Ende dieses Jahrhunderts ansteigen, wenn alle aktuellen Versprechen und Pläne weltweit fristgerecht erfüllt würden. Und das hält die CAT für eine optimistische Prognose.
Dieser Artikel ist Teil einer Serie, in der die DW Mythen zum Klimawandel einem Faktencheck unterzieht.
Lesen Sie auch:
Teil 1 – Ist die globale Erwärmung ein natürlicher Prozess?
Teil 3 – Ist China schuld an der Erderwärmung?
Teil 4 – Klimaschutz, was kann ich denn schon machen?
Teil 5 – Schadet Klimaschutz dem Wirtschaftswachstum?
Aus dem Englischen adaptiert von Ines Eisele.
Tip von Ingo