Till van Treeck über Freiheit: “Man kann nicht ganz Deutschland mit Eigenheimen zubauen”

(12.06.21 , zeit.de , Original : hier )

Viele Menschen fühlen sich nicht frei genug, um auf Konsum zugunsten von Freizeit zu verzichten, sagt der Ökonom Till van Treeck. Muss man Freiheit neu definieren? Interview: Petra Pinzler • Illustration: Annick Ehmann

Till van Treeck ist Professor und Geschäftsführender Direktor des Instituts für Sozioökonomie an der Universität Duisburg-Essen

“Man kann nicht ganz Deutschland mit Eigenheimen zubauen” – Seite 1

Klimakrise, Artensterben, Ozeanverschmutzung: Bisher hat die Ökonomie die planetaren Grenzen und damit viele ökologische Probleme weitgehend ignoriert. Doch das ändert sich gerade rasant, Schlüsselbegriffe wie “Markt”, “Wettbewerb” oder “Schulden” werden neu gedacht und neu bewertet. Das wiederum wird die Spielregeln der Wirtschaftspolitik radikal verändern. Im Rahmen eines Fellowships bei THE NEW INSTITUTE haben wir bei neun führenden Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern nachgefragt: Wie lässt sich die Wirtschaft-Natur-Krise lösen?

ZEIT ONLINE: Herr van Treeck, im Hamburger Norden sollen bald keine Eigenheime mehr gebaut werden dürfen – um dort die Natur zu schützen. Schränkt das die Freiheit der Menschen unzulässig ein?

Till van Treeck: Es schränkt sicherlich die Freiheit derer ein, die gern ein Eigenheim bauen wollen. Es erhöht aber die Freiheit derer, die die Fläche und die Materialien vielleicht gern anders verwenden würden – klimaschonender, kreativer, emanzipatorischer. Statt eines privaten Eigenheims könnten auf dem gleichen Platz vielleicht Wohn- und Gartenanlagen für viele Menschen entstehen. Unterm Strich könnte also durch das Verbot die Freiheit eher zunehmen.

ZEIT ONLINE: Das sehen viele anders. Die Entscheidung wurde vor ein paar Wochen heftig kritisiert, auch Politikerinnen und Ökonomen haben über Freiheitsentzug geschimpft.

Van Treeck: Es gibt nicht “die” Ökonom*innen. In den vergangenen eineinhalb Jahrzehnten ist das Nachdenken über Ökonomie, und damit auch über den Freiheitsbegriff, offener geworden, nicht zuletzt als Ergebnis der weltweiten Finanzkrise ab 2007 und der heute immer offensichtlicheren Klimakrise.

In den Jahrzehnten davor war der Mainstream der Wirtschaftswissenschaften dagegen in einem bestimmten Sinne liberal oder gar libertär geprägt, entsprechend eng war das Verständnis von Freiheit. Und das wirkt bis heute nach. …
Von vielen Ökonomen wurde deswegen jeglicher “Eingriff” in das Privateigentum mit der Begrenzung von Freiheit gleichgesetzt. Das aber ignoriert einen wichtigen Teil der Wirklichkeit.

ZEIT ONLINE: Welchen?

Van Treeck: Wenn man Privateigentum – also das Recht an einer Sache – mit Freiheit gleichsetzt, unterschlägt man den Freiheitsentzug derer, die das Recht an dieser Sache nicht haben. Die Freiheit der Eigentümer*innen zählt, die der anderen nicht. Oder um bei Ihrem Beispiel zu bleiben: Die Freiheit derjenigen, die sich ein Eigenheim im Hamburger Norden leisten können, zählt mehr als die der vielen anderen, die vielleicht gern über die Wiese laufen würden.

ZEIT ONLINE: Na ja, ist das nicht in einer Marktwirtschaft in gewissem Maße immer so, die einen haben etwas und es steht ihnen in gewissen Grenzen frei, damit etwas zu tun, und die anderen dürfen das eben nicht?

Van Treeck: Ja, aber man sollte das nicht mit Freiheit verwechseln, denn es stimmt nicht mehr mit dem Wert überein, um den es bei dem Begriff geht. Der politische Philosoph Jerry Cohen hat das klar herausgearbeitet, er nennt diese falsche Verknüpfung “die Inkonsistenz des rechtebasierten Freiheitsbegriffs”: Das Recht an einer Sache wird fälschlich mit der Freiheit gleichgesetzt und die Unfreiheit derjenigen, die davon nichts haben, wird unterschlagen.

ZEIT ONLINE: Ein “Eigenheim für alle” könnte eine Lösung für das Problem sein, oder? Jedenfalls ist das die Politik dieser Bundesregierung, die durch das Baukindergeld und andere Fördertöpfe möglichst vielen Menschen zu einem eigenen Haus oder wenigstens einer Wohnung verhelfen will.

Van Treeck: Ja, eine klassische Antwort auf die Inkonsistenz des rechtebasierten Freiheitsbegriffs ist das Wirtschaftswachstum: Wenn beispielsweise die Menschen, die noch kein Haus haben, auch eines haben möchten, müssen wir eben mehr bauen – und so die vermeintliche Freiheit aller erhöhen. Dieses Prinzip stößt aber an Grenzen, wenn es um Güter geht, deren Angebot sich nicht ohne Weiteres ausweiten lässt. Das ist gerade bei Wohnflächen für Einfamilienhäuser in guter Lage und bei intakter Umwelt heute ziemlich offensichtlich. Man kann ja nicht ganz Deutschland mit Eigenheimen zubauen. Wer also eines hat oder baut, nimmt unweigerlich anderen die Freiheit, das auch zu tun. Die Standardökonomik kennt dafür den Begriff der Externalität: Das Handeln der einen hat externe Effekte für andere.

“Es können im Prinzip alle SUV fahren”

ZEIT ONLINE: Oder übersetzt: In einer endlichen Welt können nicht immer mehr Menschen in Eigenheimen wohnen.

Van Treeck: Ja, allerdings wird die Sache noch etwas komplizierter durch die sogenannten positionalen Güter, wie sie der Ökonom Fred Hirsch in seinem Buch Social Limits to Growth bezeichnet hat. Bei diesen Gütern geht es darum, den eigenen Status in der Gesellschaft zu demonstrieren, da geht es beispielsweise um SUV.

ZEIT ONLINE: Verkehrsminister Andreas Scheuer hat kürzlich erst gewarnt, die Grünen wollten den Menschen den SUV wegnehmen. Und wörtlich hat er gesagt: “Da geht es um unsere Freiheit.”

Van Treeck: Man könnte zunächst tatsächlich versucht sein zu sagen, es ist Ausdruck von Freiheit, wenn einzelne Leute sich dazu entscheiden dürfen, solche riesigen Autos zu kaufen. Sie wollen die Freiheit haben, ihrem Geschmack zu folgen und sich im Straßenverkehr sicher zu fühlen. Doch selbst wenn man ignoriert, wie sehr diese Autos die Umwelt verschmutzen, wird man zugeben müssen, dass die Teilnahme dieser Autos am Straßenverkehr die Freiheit derer, die kleinere Autos oder Fahrrad fahren oder zu Fuß gehen, reduziert.

ZEIT ONLINE: Wieso?

Van Treeck: Die großen Autos brauchen große Parkplätze, Platz ist aber in Städten begrenzt. Parkende SUV nehmen also anderen, kleineren Autos den Platz weg. Schlimmer noch aber ist, dass sie den Menschen, die zu Fuß oder per Rad oder Kleinwagen unterwegs sind, die Freiheit nehmen, bei einem Unfall nicht von riesigen panzerartigen Fahrzeugen “abgeschossen” zu werden.

ZEIT ONLINE: Sozialdarwinisten würden sagen: Sollen die sich doch auch ein großes und damit “sicheres” Auto kaufen.

Van Treeck: Und schon sind wir mitten in einer absurden Aufrüstungsspirale. Es können zwar im Prinzip alle SUV fahren. Hier liegt ein Unterschied zu den Eigenheimen im Grünen, für die es einfach nicht genug Platz gibt. Aber es können nicht alle überdurchschnittlich große Autos fahren! Letztlich ist der SUV ja vor allem dann sicher, wenn er größer und schwerer ist als die Fahrzeuge anderer Verkehrsteilnehmer*innen, wenn also deren Sicherheit geringer ist. Wenn alle so denken, haben am Ende alle größere Autos, es gibt weniger Parkfläche pro Auto und die Sicherheit im Straßenverkehr hat sich nicht oder kaum erhöht. Es gibt etliche Beispiele für Güter, die Gegenstand von positionalem Wettrüsten zulasten des sozialen Friedens und natürlich auch der Umwelt sind.

ZEIT ONLINE: Dass zu viele SUV schlecht für die Umwelt sind, ist klar. Aber warum sind sie auch noch schlecht für den sozialen Frieden?

Van Treeck: Das ist eine sehr verkürzte Sichtweise, denn viele Ökonom*innen tun sich nach wie vor schwer, über die Statusdimension des Konsumverhaltens, über sogenannte positionale Externalitäten, nachzudenken. …

ZEIT ONLINE: Wieso?

Van Treeck: Gerade in besonders “freiheitsliebenden” Ländern wie den USA muss gute Bildung, eine gute Gesundheitsversorgung, gutes Wohnen auf privaten Märkten teuer bezahlt werden: Schon die Wahl des Kindergartens oder der Privatschule fürs Kind ist Teil des Statuskonsums und ermöglicht dem Kind zugleich einen viel besseren Einstieg ins Berufsleben. Wenn die Ungleichheit steigt und die Reichen immer mehr für solche Güter ausgeben, können die Nicht-Reichen das entweder hinnehmen und damit auch ihren sozialen und wirtschaftlichen Abstieg zulassen. Oder sie versuchen, den Reichen nachzueifern, verzichten auf Ersparnisse und Freizeit und arbeiten viel, um bei den gestiegenen Konsumnormen wenigsten ein bisschen mitzuhalten.

ZEIT ONLINE: Und was hat das nun mit der Klimakrise zu tun?

Van Treeck: Bei hoher Einkommensungleichheit gibt es am oberen Ende der Verteilung starke Anreize, sehr viel zu arbeiten, um Karriere zu machen und dadurch weiter zu den Spitzenverdienern zu gehören. Mit diesen Spitzeneinkommen ist ein besonders hoher sozialer Status verbunden, aber eben tendenziell auch ein Konsumstil, der allein aus ökologischen Gründen nicht verallgemeinerbar ist. Wenn die Mittelschicht ebenfalls viel arbeitet, um mit den Konsumnormen der Reichen mitzuhalten, wird immer mehr produziert, also steigen die CO2-Emissionen. Man könnte auch sagen: Da entsteht ein Arbeits- und Wachstumszwang, weil viele Menschen sich nicht frei genug fühlen, auf Konsum zugunsten von Freizeit zu verzichten. Weil sie mithalten wollen und mithalten müssen.

“Es gibt zwei Wege, die CO2-Emissionen zu senken”

ZEIT ONLINE: Und was macht das mit den Menschen und der Gesellschaft?

Van Treeck: Weil viele Menschen das Gefühl haben, alles zu geben für ihre Karriere und das Wohl ihrer Familien, steigt die Zahl derjenigen, die mit wenig Freizeit, kaum Ersparnissen und hohen Schulden dastehen. Denn es ist in ungleichen Gesellschaften ja definitionsgemäß unmöglich, dass alle oder auch nur viele die beste Bildung erhalten, die sichersten SUV fahren und in der Einkommenspyramide oben stehen. Bei steigender Ungleichheit wird es immer schwieriger mitzuhalten. Frust und sozialer Unfrieden sind da programmiert.

ZEIT ONLINE: Wie würden Sie denn Freiheit – in Zeiten der Klimakrise – umschreiben? 

Van Treeck: Es gibt natürlich keine eindeutig richtige Definition von Freiheit. Für mich sollte Freiheit bedeuten, dass alle Menschen eine ausgezeichnete öffentliche Daseinsvorsorge (kostenlose Bildung, Gesundheit, Mobilität, günstiger Wohnraum) erhalten und dass Vollbeschäftigung und eine geringe Ungleichheit herrschen. Das wäre aus meiner Sicht die Voraussetzung für die Überwindung der konsumorientierten Kultur mit langen Arbeitszeiten und Streben nach hohen Einkommen. Nebenbei bemerkt wäre das auch die Voraussetzung für eine größere Gleichheit zwischen den Geschlechtern.

ZEIT ONLINE: Seit die Fridays-for-Future-Bewegung den Begriff “Generationengerechtigkeit” bekannt gemacht hat, bekommt Freiheit auch eine zeitliche Dimension. Es wird über Freiheit und Klimaschutz diskutiert und die Argumentation lautet dann: Wenn wir heute nicht schneller CO2 einsparen, dann gefährden wir die Zukunft und damit die Freiheit der Kinder. Wie diskutieren Ökonomen über dieses Problem?

Van Treeck: Zunächst einmal muss man festhalten, dass die Klimaziele der meisten Regierungen der reichen Länder inkompatibel sind mit dem Pariser Klimaabkommen, nach dem die Erderwärmung auf deutlich unter zwei Grad begrenzt werden soll. Wenn man sich an Deutschlands Anteil an der Weltbevölkerung orientiert und auf dieser Grundlage nationale CO2-Budgets vergibt, bleiben Deutschland vielleicht noch maximal sieben Gigatonnen, wenn man sich an den Berechnungen des Weltklimarates (IPCC) orientiert. Bei jährlichen Emissionen von zuletzt circa 800 Megatonnen, können wir noch neun Jahre so weitermachen, bis unser Budget aufgebraucht ist. Wenn wir sofort anfangen, die Emissionen linear abzusenken, müsste Klimaneutralität Mitte/Ende der 2030er Jahre erreicht werden. Die Bundesregierung wollte sich aber eigentlich bis 2050 Zeit lassen. Fridays for Future und Klimaforscher haben seit Langem darauf hingewiesen, dass das zu spät ist. Mich hat oft überrascht, wie wenig Ökonom*innen ambitioniertere Ziele eingefordert haben.

ZEIT ONLINE: Das Bundesverfassungsgericht hat nun im April festgestellt, dass das deutsche Klimaschutzgesetz teilweise unvereinbar mit dem Grundgesetz ist…

Van Treeck: Ja, und interessanterweise hat das Bundesverfassungsgesetz den Beschluss, dass die Emissionen schneller gesenkt werden müssen, unter Verweis auf den Freiheitsbegriff begründet: Wenn wir nicht schneller unsere Lebens- und Produktionsweise ändern, bedeutet das eine umfassende Freiheitsgefährdung in der Zukunft. Das ist schon ein Paradigmenwechsel in der Debatte.

ZEIT ONLINE: Die bisher beliebteste Lösung der Ökonomen für die Klimakrise: der CO2-Preis. Wo ist das Problem?

Van Treeck: Es gibt, grob gesagt, zwei Wege, die CO2-Emissionen zu senken: sauberer produzieren oder weniger produzieren. Der CO2-Preis soll den ersten Weg ermöglichen. Durch die Besteuerung sollen Unternehmen und Verbraucher dazu gebracht werden, CO2-intensive Produktionsweisen und Konsumstile aufzugeben, aber im Großen und Ganzen soll unsere auf Wachstum ausgerichtete Wirtschaftsweise unangetastet bleiben.

ZEIT ONLINE: Die Monetarisierung externer Effekte gilt in der Neoklassik als Königsweg – wo ist sie sinnvoll? Was ist daran falsch?

Van Treeck: Neben der Bepreisung von CO2 ist es nötig, über ergänzende Bausteine in einer Gesamtstrategie stärker zu diskutieren: Das wäre zum einen eine öffentliche Investitionsoffensive, die eine Reform der Schuldenbremse nötig macht. ….


Klimawandel: Interview-Serie Ecologisch

Dennis Snower über Wettbewerb: “Wir leben in einer großen, Müll produzierenden Illusion” Monika Schnitzer über Innovation: “Wir müssen anders planen, bauen und wohnen” Marcel Fratzscher über Gerechtigkeit: “Klimaschutz ist zu sehr ein Projekt der Eliten” Weitere Beiträge


Tip von Ingo

Die Menschheit schafft sich ab | Harald Lesch | SWR Tele-Akademie

Aufzeichnung , Vortrag von Harald Lesch : Video : hier

May 17, 2018

http://www.tele-akademie.de – Seit 4,5 Milliarden Jahren gibt es die Erde, den Menschen erst seit 160.000 Jahren. Aber er hinterließ tiefere Spuren als alle anderen Lebewesen. Seit der Industrialisierung haben Wissenschaft und Technik die Erde fest im Griff. Und dabei werden wir immer mehr …


Abstract

Die Lebensbedingungen auf der Erde verändern sich. Viele Arten sterben aus – und auch der Lebensraum des Menschen ist zunehmend in Gefahr. Immer tiefere Spuren hinterlässt das Anthropozän, das Menschenzeitalter, in den letzten 2000 Jahren. Wissenschaft und Technik nehmen seit der Industrialisierung die Erde in den Griff. Sei es die Ausbeutung der Bodenschätze, Luft- und Wasserverschmutzung, die Klimaveränderung und Erderwärmung, Kernspaltung oder die Verschwendungssucht der Wohlstandgesellschaft – wir beuten unseren Planeten aus wie nie zuvor in der Geschichte der Menschheit. Energiehunger und globaler Konsum treiben einen zerstörerischen Kreislauf an.

Harald Lesch, Astrophysiker und Philosoph, ist aus den Weiten des Weltalls zurück. Es geht ihm jetzt um die Erde, die Heimat des Menschen, der in einer bisher nie gekannten Hybris den Ast, auf dem er sitzt, absägt.


Kommentare

Es fällt mir immer wieder ein, der Spruch aus den 70ger Jahren: Erst wenn der letzte Baum gefällt und der letzte Fuß vergiftet ist wird man feststellen daß man Geld nicht essen kann

reffen sich zwei Planeten. Sagt der eine: Ich hab´ Menschen! Sagt der andere: Das gibt sich!

„Das Universum ist nicht nur komischer als wir denken, es ist komischer als wir denken können” ~Werner Heisenberg 64

Am Ende liegen König und Bauer in derselben Kiste. 11

Also immer wenn ich höre, dass die Welt nur durch schnelles Handeln in der Politik gerettet werden kann, denke ich mir: Tschüss Menschheit.

Film „Breaking Boundaries“ : Erste Kipppunkte überschritten – ist die Erde noch zu retten?

(03.06.21 , Berliner Zeitung , Original : hier )

Artensterben, Klimakrise, Pandemien – der Potsdamer Forscher Johan Rockström zeigt in „Breaking Boundaries“, wie der Mensch sein eigenes Überleben gefährdet.

Berlin – Ein Februartag im Süden Australiens auf Kangaroo Island: Wissenschaftlerin Daniella Teixeira beobachtet hier seit vier Jahren in einem Waldgebiet die Braunkopfkakadus. „Normalerweise ist zu dieser Zeit richtig was los, denn die Küken wären auf der Welt“, sagt die Wissenschaftlerin. Doch an diesem Tag ist es still. Kilometerweit sieht man nur eine karge Landschaft, verkohlte Bäume: die Folgen der verheerenden Waldbrände in Australien von 2020. Fast 20 Millionen Hektar Land verbrannten.

Drei Milliarden Tiere sollen laut Wissenschaftlern bei den Waldbränden in Australien getötet oder vertrieben worden sein. „Es bricht mir das Herz. Es ist ein Albtraum, es so zu sehen,“ sagt Teixeira, während sie fassungslos auf die verkohlte Landschaft blickt. Das Schicksal der Braunkopfkakadus auf Kangaroo Island ist eine von vielen Szenen aus der neuen Netflix-Dokumentation „Breaking Boundaries: The Science of our Planet“, die am 4. Juni Premiere auf der Streaming-Plattform hat.

Welche planetaren Grenzen existieren?

Johan Rockström, Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung (PIK) und Professor für Erdsystemforschung an der Universität Potsdam, nimmt die Zuschauer in der Dokumentation mit auf eine wissenschaftliche Reise. Sein Ziel ist es, die planetaren Belastungsgrenzen zu definieren. Dabei handelt es sich um ökologische Grenzen der Erde, deren Überschreitung die Stabilität des Ökosystems und die Lebensgrundlagen der Menschheit gefährden. Rockström hat diese Grenzen selbst mitentwickelt. Im Film lässt der PIK-Direktor auch zahlreiche internationale Wissenschaftler wie Teixeira zu Wort kommen. Erzählt wird die 75-minütige Dokumentation von dem britischen Tierfilmer und Naturforscher Sir David Attenborough.

Gut zehntausend Jahre haben die Menschen die planetaren Grenzen nicht überschritten. Die Erde war stabil, erklärt Attenborough gleich zu Beginn des Films. Temperatur, Meeresspiegel und CO2-Konzentrationen waren weitestgehend konstant. Diese beständige Ära, das sogenannte Holozän, ermöglichte überhaupt die Zivilisation der Menschen. Doch eben diese Stabilität des Planeten sei nun gefährdet. Der von den Menschen verursachte Druck auf die Erde sei so groß, dass sie bereits ihr eigenes Erdzeitalter geschaffen haben:

„In nur 50 Jahren haben wir uns um einen Zustand gebracht, der uns zehntausend Jahre lang gut getan hat“, so Rockström. „Zum ersten Mal sind wir in der Situation, dass wir den Planeten ins Wanken bringen könnten.“ 

Grafik: BLZ/Galanty; Quelle: bmu.de

Die Belastungsgrenze des Erdklimas

Doch wie viele planetare Grenzen gibt es überhaupt? Und welche haben wir bereits überschritten? Die erste Grenze, die im Film angeführt wird, ist wahrscheinlich auch die derzeit bekannteste: die Belastungsgrenze des Erdklimas. Die Grenze der Erderwärmung liege bei 1,5 Grad Celsius, so Rockström. Überschreite man diese 1,5 Grad, gehe man ein großes Risiko ein. Bereits heute sieht man die : die zunehmenden Hitzeperioden, verheerende Waldbrände, wie sie in Australien 2020 auftraten, das Tauen der Permafrostböden – und das

Einer der internationalen Wissenschaftler, die in der Doku zu Wort kommen, ist Jason Box, US-amerikanischer Klimaforscher, der für den Geologischen Dienst Dänemarks und Grönlands arbeitet. In einer Szene des Films steht Box in Grönland, im Hintergrund sieht man Eismassen.

Grönland verliere pro Sekunde durchschnittlich zehn Millionen Liter Eis, erzählt Box. Und dieser Verlust werde zunehmen, wenn sich das Klima weiter erwärme. Denn durch das Abtauen verringere sich die Höhe des bis zu 3000 Meter hohen Eisschildes. Das Eis sinke in tiefere, wärmere Luftschichten ab, wo es noch schneller schmelze. Gebe es weniger Meereis, werde zudem mehr Sonnenenergie aufgenommen, da das dunkle Wasser diese stärker absorbiere. Das führe zu einer noch stärkeren Eisschmelze.

Das Abschmelzen des Eisschildes in Grönland sei daher nicht mehr aufzuhalten, außer es gelinge, das Erdklima deutlich zu verändern – und zwar so schnell wir möglich. Ist Grönland also verloren? „Offenbar schon“, antwortet Box.

Kipppunkte entfernen Planeten von stabilem Zustand

Mit dem Abschmelzen des Eises in Grönland gelingt es den Filmmachern, den Zuschauern deutlich die Dramatik der sogenannten Kipppunkte innerhalb der planetaren Grenzen zu verdeutlichen. Schmilzt Grönlands Eisschild, überschreitet man einen Kipppunkt, also den Punkt, an dem es kein Zurück mehr gibt. Der Planet entfernt sich so unumkehrbar von seinem stabilen Zustand, der für uns Menschen wichtig ist. Eine Folge: Wenn das gesamte Grönlandeis schmelze, so Box, steige der Meeresspiegel weltweit um sieben Meter. Hunderte von Küstenstädten seien von steigenden Meeren bedroht.

Forscher warnen:
Der Erde droht verhängnisvolle Klima-Kettenreaktion

Noch dramatischer sei das Schmelzen der Eismassen in der Antarktis. Wenn das komplette Eis der Westantarktis schmelze, würde der Meeresspiegel mehr als fünf Meter steigen, bei der Ostantarktis seien es mehr als 50 Meter, erklärt Klimaforscherin Ricarda Winkelmann vom PIK. 

Rockström unterteilt in der Dokumentation die jeweiligen planetaren Grenzen in drei Zonen: der sicheren Zone, der Gefahrenzone und der Hochrisikozone. Bei der Belastungsgrenze des Erdklimas haben die Menschen bereits die erste Grenze überschritten: Sie befinden sich in der Gefahrenzone. Zwar bestehe in der Gefahrenzone noch die Möglichkeit, wieder in die sichere Zone zurückzukehren. In diesem Fall würde das bedeuten: das Abbremsen der Erderwärmung durch ein radikales Absenken der  Treibhausgasemissionen. Gelinge das nicht, würden wir Menschen auf die Hochrisikozone zusteuern. Große Waldbrände wie in Australien wären dann weltweit keine Seltenheit mehr. 

Die Klima-Belastungsgrenze ist nur eine von insgesamt neun planetaren Grenzen, die in „Breaking Boundaries“ von Attenborough und Rockström aufgezeigt werden. Weitere planetare Grenzen sind die Biodiversität, der Aerosolgehalt in der Atmosphäre, die Süßwassernutzung, der Landnutzungswandel, die Ozonschicht, die Zufuhr von Nährstoffen wie Phosphor und Stickstoff, die Versauerung der Ozeane und menschengemachte Schadstoffe wie Atommüll, Schwermetalle, Mikroplastik.

68 Prozent der Wildtierpopulation ist ausgerottet

Bei der planetaren Grenze der Biodiversität kommt Anne Larigauderie zu Wort, Chefin des Weltbiodiversitätsrats. In nur 50 Jahren habe die Menschheit 68 Prozent der globalen Wildtierpopulation ausgerottet, erklärt sie.

bedrohe letztendlich auch das Leben der Menschen. 

Es sei schwierig, die planetare Belastungsgrenze der Biodiversität genau zu bestimmen, da man noch längst nicht alle Tier- und Pflanzenarten kenne. „Eines ist aber sicher. Wir haben die planetare Grenze der Biodiversität bereits weit überschritten“, so Rockström. Was den Artenverlust und die Zerstörung der Ökosysteme betreffe, sei man schon längst nicht mehr nur in der Gefahrenzone, sondern bereits im Hochrisikobereich. Das Fazit: Das Artensterben müsse sofort gestoppt werden.

Internationaler Tag der ArtenvielfaltExperte: „Das Artensterben wird auch unseren eigenen Wohlstand gefährden“

Insgesamt haben die Menschen nach Aussagen der Wissenschaftler bereits vier der neun planetaren Grenzen überschritten: die Grenze der Erderwärmung, die des Waldverlustes, die Zufuhr von Stickstoff und Phosphor und die Biodiversität. Mit der Überschreitung der Grenzen werden weitere Kipppunkte aktiviert, mit irreversiblen Folgen. 

Rockström gelingt es in „Breaking Boundaries“, die einzelnen planetaren Grenzen nicht nur mit vielen Fakten und Studienergebnissen zu erklären. Mithilfe von Grafiken und anschaulichen Beispielen werden die Grenzen und die Dramatik der Überschreitung der Grenzen den Zuschauern verständlich gemacht. Die zentrale Botschaft des Films: Nur ein stabiler Planet kann die Zukunft der Menschheit sichern.

Im Mittelpunkt der Dokumentation steht Rockström mit seinen wissenschaftlichen Erkenntnissen. Immer wieder werden dabei Ereignisse aus seinem Leben erzählt, die ihn privat und als Wissenschaftler geprägt haben. So berichtet er etwa, dass er als Kind viel Zeit mit seinen Freunden auf einer Ostseeinsel verbrachte und angeln war. Sie konnten Dorsche sogar mit der Hand fangen, da es so viele Fische in der Ostsee gab. Heute gebe es kaum noch Dorsche. Das liege zum einen an der Überfischung, aber auch an Düngemitteln, die in die Flüsse und damit auch in die Ostsee gelangen. Kein Meer sei so stark verschmutzt wie die Ostsee, so Rockström. „Wenn das in allen Meeren passiert, verliert der Planet immer mehr seine Resilienz.“

Covid-19 ist nur ein Vorbote für weitere Pandemien

Der PIK-Direktor geht in dem Film auch auf die Corona-Pandemie ein. Diese zeige, wie schnell ein Virus nicht nur das Leben der Menschen, sondern die gesamte Weltwirtschaft gefährden kann. Dabei ist Covid-19 nur ein Vorbote für weitere Pandemien.

Grund ist in erster Linie die fortschreitende Zerstörung der Lebensräume von Wildtieren. Ein Überspringen der Krankheitserreger von Tier auf Mensch wird so immer wahrscheinlicher. Würden die Menschen die Lebensräume hingegen schützen, könnten auch Pandemien verhindert werden. „Pandemien entstehen nicht in einer gesunden Natur“, erklärt Rockström.

Covid-19 sei eine klare Warnung, dass es dem Planeten nicht gut gehe. „Vielleicht lernen wir aber daraus, eine neue Richtung einzuschlagen. Es ist machbar“, so Naturforscher Attenborough. Noch gebe es die Möglichkeit in die sichere Zone zurückzukehren und die Erde in den grünen Bereich zu bringen. Man müsse dafür das gesamte Wachstumsmodell auf Nachhaltigkeit ausrichten, sagt Rockström. Das bedeute unter anderem, dass der CO2-Ausstoß auf Null gebracht werden müsse, um eine möglichst niedrige globale Temperatur zu erreichen. 

Globale ErwärmungKlimawandel: So werden wir im Jahr 2050 leben

Stoßen wir weiter jedes Jahr 40 Milliarden Tonnen CO2 aus, werde unser CO2-Kredit in sieben Jahren erschöpft sein. Würde man in den kommenden 30 Jahren keine fossilen Brennstoffe mehr nutzen, würde uns das in den sicheren Bereich von mehreren planetaren Grenzen bringen: Die Luftverschmutzung ginge zurück, die Versauerung der Ozeane würde sich verlangsamen, auch die Artenvielfalt würde nicht mehr so unter Druck stehen. Ein weiterer Vorschlag Rockströms: die Aufforstung. Denn Bäume binden Kohlenstoff und verhindern zudem Bodenerosionen. Auch eine Kreislaufwirtschaft müsse etabliert werden. Das heißt: Produkte sollen so gestaltet werden, dass alle Materialien wiederverwendet werden können. Der PIK-Direktor adressiert in der Dokumentation ganz klar die politischen Entscheidungsträger, aber auch jeden einzelnen Verbraucher. 

„Breaking Boundaries“ stellt so nicht nur die Dramatik der aktuellen Lage dar, sondern zeigt auch Lösungen auf und gibt Hoffnung, dass wir das Überschreiten einiger Kipppunkte noch verhindern können. „Unser Handeln in diesem Jahrzehnt wird über die Zukunft der Menschheit entscheiden“, so Rockström. „Das Zeitfenster ist offen. Noch hat die Menschheit eine Zukunft. Das ist das großartige an unserer Zeit.“


Breaking Boundaries: Die Wissenschaft hinter “Unser Planet”

Der Dokumentarfilm zeigt, welche Grenzen nicht überschritten werden dürfen, um die Erde zu bewahren.

Das passiert in “Breaking Boundaries: Die Wissenschaft hinter “Unser Planet””

David Attenborough und die Filmemacher von “Unser Planet” und “David Attenborough: Mein Leben auf unserem Planeten” haben sich erneut zusammengetan. In dieser Dokumentation werden die wissenschaftlichen Hintergründe der Serien erläutert. “Breaking Boundaries” berichtet über die Erkenntnisse von Professor Johan Rockström. Es wird der Frage nachgegangen, wie es dazu kam, dass der Mensch die Erde über ihre Grenzen hinaus belastet.

So kannst du “Breaking Boundaries: Die Wissenschaft hinter “Unser Planet”” streamen:

In unserem Film und Seriendetails erfährst du, bei welchem Streamingdienst du “Breaking Boundaries: Die Wissenschaft hinter “Unser Planet”” streamen bzw. online anschauen kannst. Mit einem Klick kommst du direkt zum Anbieter. Jetzt streamen

Leserbrief zu : Haus des Wissens: Benötigt Bochums ‘Leuchtturm’ neuen Namen

Verschickt: So, 13. Jun. 2021 13:01
Betreff: Leserbrief Haus des Wissens

Hallo ich bitte um Veröffentlichung.
Leserbrief zu WAZ+ vom 10.06.21:

Haus des Wissens: Benötigt Bochums ‘Leuchtturm’ neuen Namen

Kennen Herr Sporer und Frau Freis das Gebäude und den Unterschied zwischen Klimaschutz – also der Minderung des Ausstoßes von Treibhausgasen – und Maßnahmen zur Anpassung an die negativen Folgen des Klimawandels nicht?

Wie kommen sie zu der Aussage: der „Garten auf dem Dach leistet mehr als eine Photovoltaikanlage“? Die Bäume reduzieren nicht die CO2-Emissionen, da das CO2, welches sie während der Wachstumsphase aufnehmen in der Absterbephase wieder freisetzen.

Da weltweit – und das gilt leider auch für Bochum – die Biomasse der Bäume stark abnimmt, setzen Bäume in der Summe zur Zeit sogar CO2 frei. Die Bäume leisten wohl kaum einen wichtigen, sondern nur einen kleinen Beitrag zur Kühlung der Innenstadt, wohl aber zur Kühlung der Dachterrasse – vorausgesetzt sie werden entsprechend gepflegt.

Das dies nicht per se vorausgesetzt werden kann zeigt der Baumbestand auf dem Husemannplatz.

Ein Verzicht auf Photovoltaik ist ein Unding. Diesen Verzicht können wir uns nicht leisten, nur weil das Geschmacksempfinden des Architekten durch Photovoltaikmodule an dieser Stelle gestört würde.

Wenn die Platinplakette der Deutschen Gesellschaft für Nachhaltiges Bauen angestrebt wird muss man schon konsequent alle Möglichkeiten des Klimaschutzes nutzen und Angesichts des vor zwei Jahren vom Rat der Stadt beschlossenen Klimanotstandes erst recht.

Das Bochumer Klimaschutzbündnis bemüht sich seit mehr als zwei Wochen vergeblich um nähere Informationen zur Vorentwurfsplanung.

Ingo Franke

Wasser und Klimaschutz: Fliegende Flüsse

(11.06.21 , von taz.de , Original : hier ,
interessanter Artikel der Wissenschaftsseite der taz zur Bedeutung von Bäumen für das Stadtklima)

Begrünung kann eine Landschaft um bis zu 20 Grad runterkühlen, sagt eine Studie. Eine Schlüsselrolle kommt dabei dem Wald zu.

Wasser kühlt – das wissen wir alle. Und dennoch wird dieser Umstand in der Klimadebatte massiv unterschätzt. Viele glauben, es reiche, den CO2-Gehalt in der Atmosphäre zu reduzieren. Dabei sind die Dinge viel komplexer, denn es gibt weitere, biophysikalisch sehr unterschiedlich wirkende Treibhausgase, wozu auch Wasserdampf gehört.

Der Übergang von flüssigem Wasser zu Wasserdampf sorgt erdnah für Verdunstungskühlung

Bis vor Kurzem war Wasserknappheit in Deutschland undenkbar. Doch mehrere Dürresommer in Folge ließen Unterböden in der Tiefe von 1,80 Metern so austrocknen, dass im Harz und anderswo der Wald stirbt.

Angesichts sinkender Grundwasserpegel warnte das Bundesamt für Bevölkerungsschutz und Katastrophenhilfe sogar schon vor längerfristig drohender Knappheit von Trinkwasser.

Wie erklärt sich der Wassermangel im regenreichen Deutschland? Me­teo­ro­lo­g:in­nen sagen, die früher beginnende Vegetationsperiode verbrauche das Wasser im Boden schneller, so dass es im Sommer fehlt. Aber neue Studien liefern wichtige Hinweise darauf, dass auch Abholzungen und Versiegelungen enorm zur Zerstörung der großen und kleinen Wasserkreisläufe beitragen.

Wenn die Sonne auf eine begrünte Fläche scheint, nutzen die Pflanzen über 70 Prozent der Sonnenenergie für die Verdunstung („Transpiration“). Ist die Fläche nackt, spricht man von „Evaporation“. Pflanzen nehmen Wasser als Transportmittel für Nährstoffe und Kühlmittel über ihre Wurzeln auf und geben es über die Spaltöffnungen ihrer Blätter an ihre Umgebung ab. Der Übergang von flüssigem Wasser zu Wasserdampf sorgt erdnah für Verdunstungskühlung, während die dabei „verbrauchte“ Energie als „latente Wärme“ in die Atmosphäre hochsteigt. Pflanzen leisten also einen entscheidenden Beitrag zum Transfer von bodennaher Wärme und zur Kühlung des Planeten.

Städte werden im Sommer zu Hitzeinseln

An einem Sonnentag kann ein einziger Baum mehrere 100 Liter Wasser transpirieren und seine Umgebung mit 70 Kilowattstunden pro 100 Liter kühlen, was der Leistung von zwei 24 Stunden lang laufenden Klimaanlagen entspricht. In Tschechien wurden laut einer Studie in Ecological Engineering an einem Sommertag in einem Wald 28 Grad gemessen, während die Temperaturen auf einem abgeernteten Feld 42 Grad und über Asphalt 49 Grad betrugen. Da Städte meist viel Asphalt und wenig Grün haben, werden sie im Sommer zu Hitzeinseln. Auch nackte Erde erhitzt sich schnell.


Die Autoren

Stefan Schwarzer ist Mitarbeiter der UN-Umweltorganisation UNEP und hat dort einen wissenschaftlichen Artikel mit ähnlichem Tenor veröffentlicht. Zusammen mit Ute Scheub schrieb er 2017 „Die Humusrevolu­tion – wie wir den Boden retten, das Klima retten und die Ernährungswende schaffen“.


Fast die Hälfte der Niederschläge über den Kontinenten entsteht durch Verdunstungsprozesse über dem Land, davon 60 bis 80 Prozent aus der Transpiration von Pflanzen. Das bedeutet, dass globale Landnutzungsänderungen Wasser- und Energieströme verändern und somit enormen Einfluss auf das Klima haben. Schwindende Wälder und nackte Böden führen zu höheren Bodentemperaturen, weniger Niederschlag und längeren Trockenzeiten. Eine Studie in Nature fand heraus: Luftmassen, die über kahle Gebiete ziehen, produzieren um die Hälfte weniger Regen als Luftmassen über stark bewachsenen Flächen.

Vermehrt ab 1950 wurden weltweit Wälder in Äcker und versiegelte Flächen umgewandelt. In Indien veränderte sich das Muster des Monsuns parallel zur Entwaldung. Auf Borneo führen die Abholzungen des Urwalds für Palmölplantagen zu signifikant weniger Regen. Global reduziert sich die Verdunstung seit 1950 jährlich um etwa 5 Prozent, was die Durchschnitts-Temperatur um 0,3 Grad erhöhte. Allein die jetzige Abholzungsrate der Tropenwälder könnte bis 2100 für eine Klimaerhitzung um 1,5 Grad sorgen.

Wälder produzieren ihren Regen selbst

Zudem scheinen große Wälder biochemische Reaktoren zu sein: Sie lassen Bakterien, Pilzsporen und Pollen in die Luft steigen, wo diese als Kondensationskerne für Wolken und Niederschläge dienen. Und sie senken die Gefriertemperatur von Eiskernen, was Wolkenbildung und lokalen Regen begünstigt. Wälder produzieren somit ihren Regen selbst. Sie dienen womöglich auch als Wind- und Wettermacher, als „biotische Pumpe“, die das Nass rund um die Erde transportiert, sagt die russische Klimaforscherin Anastassia Makarieva.

Millionen von Bäumen erzeugen in Form von Wolken riesige Wasserflüsse in der Luft, die „fliegenden Flüsse“. Der von Bäumen erzeugte Wasserdampf kann dabei in 8 bis 10 Tagen etwa 500 bis 5.000 Kilometer zurücklegen. Die über Eurasien aufsteigende Feuchtigkeit beeinflusst wesentlich das Wetter und die Wasserressourcen in China. Die Feuchte über Ostafrika ist Miterzeuger der Niederschläge im Kongobecken. Der westafrikanische Regenwald sorgt für Wasser im Nil. Und das Amazonasgebiet lässt Regen über dem Nordwesten der USA und Südamerika entstehen. Entwaldung führt auch zu stärkeren Aufwinden und höheren Wolken, die Niederschläge geringerer Menge, aber stärkerer Intensität produzieren.

Wenn Pflanzen und Bäume so existenziell wichtig sind für das lokale, regionale und globale Klima, dann beinhaltet das aber auch positive Nachrichten. Erstens: Klimaschutz durch Wiederbegrünung ist hochwirksam. Konkret bedeutet das, Entwaldung auf allen Ebenen zu stoppen und Wiederaufforstung zu erhöhen.

Hecken und Blühstreifen als Pflicht

Auch die Landwirtschaft sollte auf regenerative Praktiken umgestellt werden: Der Boden sollte mit Mulch, Zwischenfrüchten und Untersaaten immer bedeckt und begrünt werden. Ausgeräumte Agrarlandschaften wie in den jetzt von Wasserknappheit bedrohten östlichen Bundesländern sollte es nicht länger geben. Hecken, Baum- und Blühstreifen sollten zur Pflicht gemacht werden, damit die Feuchte im Boden erhalten, von den Pflanzen transpiriert und damit wieder zu Niederschlag umgewandelt werden kann.

Waldumbau und Wasserrückhaltung sollten gefördert werden. Ebenso Agroforstsysteme, wie es jetzt auch ein Bundestagsbeschluss vom Januar 2021 vorsieht. All diese Maßnahmen sorgen für mehr Wasser im kleinen Verdunstungskreislauf und sind deshalb weit wirksamer als Wassersparen.

Zweitens: Stadtregierungen und zivilgesellschaftliche Gruppen können sehr viel tun. Berlin, Hamburg und andere Metropolen haben begonnen, sich in „Schwammstädte“ zu verwandeln, auch wenn das Umsetzungstempo noch zu wünschen übrig lässt. Das Konzept beinhaltet, kostbaren Regen nicht länger in die Kanalisation zu leiten, sondern aufzufangen – mittels Flächenentsiegelungen, Regenspeichern, Ausweitung von Parks und Grünflächen, flutbaren Plätzen oder Mulden unter jedem einzelnen Stadtbaum.

Häuser könnten mit Gründächern und Grünfassaden ausgestattet, Terrassen mit Pergolas gekühlt werden. Urbane Gärt­ne­r:in­nen könnten auf jeder Brache dafür sorgen, dass sie begrünt und begärtnert wird. Kleine Gruppen können zwar nicht für eine messbare CO2-Absenkung sorgen, aber für eine deutliche Abkühlung des lokalen Klimas. Das heißt: weniger Hitzetote, mehr Gesundheit, mehr Wohlbefinden. Jede einzelne Pflanze und jeder einzelne Baum zählt!

Drittens: Wenn die „fliegenden Flüsse“ Eurasiens etwa das Wetter von China mitbestimmen, bedeutet das eine ganz neue Perspektive für die Weltgesellschaft: Internationale Klimakooperation wird zum Muss. Jeder Staat ist von jedem anderen abhängig, jeder wird zum Sender und Empfänger von Feuchte und Kühle.


(Tip von Holger)

Versorgungs-Report Klima und Gesundheit

Siehe hierzu auch in unserem Presse-Archiv den Artikel der WAZ

(09.06.21 , Wissenschaftliches Institut der AOK , Original : hier )

Der  Report geht der Frage nach, welche Auswirkungen der Klimawandel auf unsere Gesundheit hat und welche Konsequenzen sich daraus für die medizinische Versorgung in Deutschland ergeben. Dabei bringt er die unterschiedlichen Perspektiven von Umweltepidemiologen, Medizinern und Gesundheitspolitikern zusammen. Expertinnen und Experten analysieren in insgesamt 16 Fachbeiträgen den Einfluss des Klimawandels auf Erkrankungshäufigkeiten, gefährdete Bevölkerungsgruppen und Infrastrukturen der Gesundheitsversorgung.


Der Report verfolgt das Ziel, aktuelle wissenschaftliche Erkenntnisse für die Versorgungspraxis aufzubereiten und so zu einer stärkeren Sensibilisierung für die gesundheitlichen Folgen des Klimawandels in der Gesellschaft beizutragen. Dargelegt werden:

  • klimawissenschaftliche Grundlagen und Gesundheitsfolgen der Klimaveränderungen
  • versorgungsbezogene Analysen zu bedeutsamen Gesundheitsrisiken und Präventionsempfehlungen
  • Verhalten der Bevölkerung auf Basis einer aktuellen deutschlandweiten Befragung
  • Anpassungsbedarf auf infrastrukturell-organisatorischer Ebene


Der Teil „Daten und Analysen“ informiert umfassend über die Häufigkeit von Erkrankungen und Behandlungen in Deutschland.

  • Klimawandel und gesundheit: wissenschaftliche Erkenntnisse und Prognosen
  • Handlungsbedarfe für die Gesundheitsversorgung
  • Präventionsverhalten und gesellschaftliche Rahmenbedingungen

Teil I Grundlagen und die globale Bedeutung des Klimawandels für die Gesundheit

1

Der anthropogene Klimawandel und seine Folgen: Wie sich Umwelt- und Lebensbedingungen in Deutschland verändern

Veronika Huber2

Klimawandel und Gesundheit aus globaler Perspektive – eine Übersicht über Risiken und Nebenwirkungen

Alina Herrmann und Ina Danquah

Teil II Gesundheitliche Auswirkungen des Klimawandels und Herausforderungen für die medizinische Versorgung in Deutschland

3

Der Einfluss von Temperatur auf die Mortalität

Elke Hertig und Alexandra Schneider4

Der Einfluss des Klimawandels auf das Auftreten von Herz-Kreislauf-Erkrankungen. Handlungsansätze und die besonderen Herausforderungen durch Arzneimittelwechselwirkungen

Bernhard Kuch5

Individuelle und regionale Risikofaktoren für hitzebedingte Hospitalisierungen der über 65-Jährigen in Deutschland

Hannah Klauber und Nicolas Koch6

Hitzewellen: neue Herausforderungen für die medizinische Versorgung von älteren Menschen

Clemens Becker, Jochen Klenk, Julia Frankenhauser-Mannuß, Ulrich Lindemann und Kilian Rapp7

Hitzebelastungen im Arbeitssetting: die Sicht der Arbeitsmedizin

Julia Schoierer, Hanna Mertes, Katharina Deering, Stephan Böse-O’Reilly und Caroline Quartucci8

Interaktion von Temperatur und Luftschadstoffen: Einfluss auf Morbidität und Mortalität

Susanne Breitner, Regina Pickford und Alexandra Schneider9

Klimawandelbedingte Veränderungen in der UV-Exposition: Herausforderungen für die Prävention UV-bedingter Hauterkrankungen

Jobst Augustin, Brigitte Stephan und Matthias Augustin10

Der Einfluss des Klimawandels auf die Allergenexposition: Herausforderungen für die Versorgung von allergischen Erkrankungen

Alika Ludwig, Daniela Bayr, Melanie Pawlitzki und Claudia Traidl-Hoffmann11

Der Einfluss des Klimawandels auf die Ausbreitung von Infektionskrankheiten – am Beispiel der Lyme-Borreliose

Martín Lotto-Batista, Christiane Behrens und Stefanie Castell12

Klimawandel und Gesundheit: Welche Rolle spielt der Klimawandel im Gesundheitsbewusstsein der Bevölkerung? Ergebnisse einer deutschlandweiten Bevölkerungsbefragung

Caroline Schmuker, Bernt-Peter Robra, Kai Kolpatzik, Klaus Zok und Jürgen Klauber13

Gut für das Klima, gut für die Gesundheit: Perspektiven für individuelle Verhaltensänderungen

Timothy McCall, Tatjana P. Liedtke, Claudia Hornberg und Michaela Liebig-Gonglach

Teil III Strukturelle und organisatorische Anpassungen an den Klimawandel

14

Notwendige Anpassungen in Einrichtungen der Gesundheitsversorgung aufgrund hitzebedingter Dehydrationsrisiken

Stephanie Krebs, Anna Larina Lietz und Martina Hasseler15

Klimasensible Stadtplanung und Stadtentwicklung

Judith Schröder und Susanne Moebus16

Den Klimawandel bewältigen: Herausforderungen an die institutionelle Organisation des Gesundheitswesens

Ingo Bode

Teil IV Daten und Analysen

17

Diagnosehäufigkeit und Inanspruchnahme des Gesundheitswesens

Caroline Schmuker, Ghassan Beydoun und Christian Günster

zur Übersicht Versorgungs-Report

Führt XR die NRW-Polizei an der Nase herum (WAZ) – Leserbrief

(07.06.21, WAZ.de , Tobias Blasius , Original : hier — Leserbrief s. unten)

Düsseldorf 
Aktivisten können immer wieder gesicherte Gebäude im Düsseldorfer Regierungsviertel besetzen, so auch am Montag. Das hat jetzt ein Nachspiel.

… Am Montag konnten erneut mehrere Aktivisten auf das Hauptportal des eigentlich besonders geschützten NRW-Innenministeriums klettern und dort ein Transparent enthüllen mit der Aufschrift: ‟Stoppt die Klimakrise, nicht den Protest.”

Erst ein Großaufgebaut der Polizei zeigte sich in der Lage, den Protest nach mehr als einer halben Stunde zu beenden. ….

Eigentlich sollte der Objektschutz verdoppelt werden

Es ist nicht der erste Einsatz dieser Art. Immer wieder war es Extinction Rebellion zuletzt gelungen, mit der bloßen Ankündigung von Aktionen in den Sozialen Netzwerken die Polizei in Düsseldorf auf Trab zu halten. Im Landtag ist bereits von einem ‟peinlichen Katz- und Maus-Spiel” die Rede. Es könne nicht sein, dass die Landesregierung allerorten ihre ‟Null-Toleranz-Strategie” rühme, aber im Zentrum der NRW-Demokratie permanent von ein paar jungen Leuten vorgeführt werde.

… Damals war es einer größeren Formation von Extinction Rebellion gelungen, ungehindert einen bunten Wohnwagen bis direkt vor das Hauptportal des Parlaments zu schieben. Einige Umweltaktivisten kletterten mühelos die Landtagsfassade hoch und befestigten ein Banner. Andere ketteten sich an eine mitgebrachte Windrad-Attrappe.

Landtagspräsident sieht eine gefährliche Entwicklung

Wie aus einem in den Sozialen Netzwerken veröffentlichten Video von Extinction Rebellion hervorgeht, waren die Objektschützer offenbar nicht durchgehend auf dem Posten. Die Aktivisten konnten in Ruhe vor dem Parlamentsgebäude mit Fotografen-Begleitung Position beziehen. Erst nach Stunden war die Ordnung auf dem Landtagsvorplatz wieder hergestellt.


(Tip von Petra)


Leserbrief :

Betreff: Führen Umweltaktivisten NRW vor? – Ist das wirklich die Frage?

Die Fragen, die hier meiner Meinung nach zu stellen sind, WARUM? und WOZU?

Fangen wir mit dem “Warum” an:
Nachdem 1984 der Club of Rome erstmals auf die Auswirkungen des ungebremsten Ressourcenverbrauchs hingewiesen hat, haben seitdem viele tausend Wissenschaftler den Klimawandel bestätigt. Jahrzehntelang wurde friedlich demonstriert und Petitionen unterschrieben, und wo stehen wir heute?

2018 hat der Weltklimarat in einem Sonderbericht erklärt, dass wir noch 420 Gigatonnen CO2 emittieren können, um das 1,5°C Ziel zu erreichen. Im gleichen Jahr wurden 42 Gigatonnen verbrannt. Bei gleichbleibenden Emissionen haben wir das vorgegebene Kontingent 2028 verbraucht!!!Haben wir seitdem irgendwas unternommen, um den CO2 Ausstoß einzudämmen? Ach ja wir hatten CORONA, und damit den Lockdown!

Jetzt zur Frage “Wozu“:
Es brennt, die Zeit läuft uns davon! Es ist der verzweifelte Versuch von FFF und auch von Extinction Rebellion, u.a. Klimagerechtigkeitsbewegungen, -in gewaltfreien und friedlichen Protesten und/oder Aktionen des zivilen Ungehorsams die Politik und die Medien wachzurütteln! z.B. waren Deutschlands CO2 Emissionen pro Kopf höher als in China!

Die pro Kopf Emissionen waren in Deuschland mit 9,6t ( China 7,6t ) pro Jahr doppelt so hoch wie der internationale Durchschnitt mit 4,8t CO2. Wann wird die Politik und die Medien endlich aufwachen und den drohenden Klimakollaps und das massive Artensterben endlich ernst nehmen, angesichts der ungebremsten Zerstörung unserer Lebensgrundlagen und der existenziellen Zerstörung allen Lebens auf unserem Planeten.

Wann nehmen sie Ihren Autrag zur journalistischen Aufklärung endlich ernst und berichten zum Wohl und Erhalt der Menschen und ihrer Lebensgrundlagen anstatt dagegen zu polemisieren, oder von den entscheidenden zukunftsfördernden Inhalten und Fragen abzulenken, indem sie die Empörung auf Nebenschauplätze lenken.

Petra


Essen in Zeiten der Klimakrise

(06.06.21 , von orf.at , Original : hier )

Hipster-Bashing, das Aufräumen mit Nachhaltigkeitsmythen und ganz viel Pragmatik stehen im Vordergrund bei drei Buchveröffentlichungen zum Thema Ernährung und ökologischer Fußabdruck. Konsens herrscht mittlerweile in der Frage, ob nun Konsumierende, Wirtschaft oder Politik die Verantwortung fürs Klima tragen.

Mike Berners-Lee ist britischer Ökologieprofessor, dabei Experte für den ökologischen Fußabdruck – und nicht zu verwechseln mit seinem Bruder, dem HTML-Erfinder Tim Berners-Lee. Sein Buch heißt „Wie schlimm sind Bananen? Der CO2-Abdruck von allem“. David Höner ist ein Schweizer Koch, Entwicklungshelfer und Ernährungsaktivist. Er lebt in Ecuador, wo er unter anderem Avocados im privaten Garten anbaut, und hat nun mit „Köche, hört die Signale“ ein „kulinarisches Manifest“ verfasst. Und Cornelia Diesenreiter hat das Buch „Nachhaltigkeit gibt’s nicht“ geschrieben und führt ein Geschäft auf dem Wiener Schwendermarkt, wo gerettete Lebensmittel zu allerlei möglichst nachhaltigen Produkten weiterverarbeitet werden.

„Möglichst nachhaltig“ – das führt bereits zum Kern der Problematik. Diesenreiter erklärt das anhand einer Marmelade. Damit die ökobewusste Käuferschaft zugreift, muss die Unternehmerin den Sechserpack in einer Schachtel aus recyceltem Karton verkaufen. Als studierte Expertin für Umwelt- und Bioressourcenmanagement weiß sie: Der Karton hat einen sechsmal größeren ökologischen Fußabdruck als eine dünne Plastikfolie. Bei Nachhaltigkeit geht es allzu oft nur ums Image – das von Produkten, aber auch das eigene.

Hipster vs. Klimawandelleugner

Berners-Lee, Höner und Diesenreiter haben einen gemeinsamen Feind: Das Mittelklasse-Hipstertum in seiner Bobo-Variante. Da wird in den Urlaub geflogen, mit dem SUV zum Zweitwohnsitz gefahren, aber das Ökoimage richten Jutesackerln und fair gehandelter Biokaffee aus der Rösterei ums Eck genauso wie das vor sich hergetragene Angeekelt-Sein von den Klimawandelleugnern in den billigen Vorstadtbezirken. Dabei sind es gerade ärmere Menschen, die einen viel kleineren ökologischen Fußabdruck haben, erklärt Diesenreiter im Interview – eben mangels SUV und weil sie nicht mit dem Flugzeug regelmäßig ans andere Ende der Welt fliegen.

Ums Image geht es auch den Unternehmen, und allzu oft nicht um Nachhaltigkeit. Diesenreiter führt als Beispiel die Kennzeichnung „ohne Palmöl“ an. Viele Produzenten hätten auf Kokosöl umgestellt, weil Palmöl nicht mehr opportun sei. Für Kokosöl muss eineinhalbmal so viel Regenwaldfläche gerodet werden wie für dieselbe Menge Palmöl. Hier hakt der Koch Höner ein: Wer vegan ist und dann Butter aus Kokosöl isst, tut der Umwelt nichts Gutes.

Heikle Frage Fleischkonsum

Berners-Lee vergleicht das mit jenen, die als Vegetarier oder Vegane Fleisch weglassen und durch eingeflogenes Gemüse ersetzen. Wobei er Obst und Gemüse, etwa Bananen und Orangen, die mit dem Schiff kommen, als recht unproblematisch einstuft. In seinem Buch finden sich detaillierte Fußabdrucktabellen mit Erklärungen zu den unterschiedlichsten Produkten. Diesenreiter sagt auch, dass es immer noch besser sei, tierische Lebensmittel zu essen als vegane Produkte, die nur noch aus Chemie bestehen.

Buchhinweise:

  • Cornelia Diesenreiter: Nachhaltig gibt’s nicht. Molden, 158 Seiten, 22 Euro.
  • David Höner: Köche, hört die Signale. Ein kulinarisches Manifest. Westend, 175 Seiten, 18,50 Euro.
  • Mike Berners-Lee: Wie schlimm sind Bananen? Der CO2-Abdruck von allem. Midas, 278 Seiten, 22,70 Euro.

Also doch zurück zum bedenkenlosen Fleischkonsum und zu Milchprodukten? Dem widersprechen sowohl Berners-Lee als auch Höner und Diesenreiter. Nur soll man beim Ersatz nicht auf Greenwashing und Ökomythen hereinfallen. Warum Fleischkonsum trotzdem ineffizient und dadurch unökologisch ist, erklärt Berners-Lee in einfach verständlichen Worten: 100 Gramm Sojabohnen enthalten mehr Eiweiß und Vitamin A als 100 Gramm Rindfleisch.

Man könne die 100 Gramm Sojabohnen selbst essen. Verfüttere man sie an ein Rind, erhalte man dafür zehn Gramm Rindfleisch, weil das Rind selbst einen Großteil der Energie der Sojabohnen verbrauche. Zehn Gramm Rindfleisch seien erst recht nährstoffärmer als 100 Gramm Sojabohnen. Man mache also ein riesiges Verlustgeschäft. Noch dazu würden Rinder durch ihre Verdauung viel CO2 ausstoßen. Wie man es auch drehe und wende, die Ökobilanz von Fleisch und Milchprodukten sei nicht gut.

Good News statt Apokalypsengezeter

Aber, und auch hier sind sich alle drei einig: Es bringt nichts, wenn das Thema Nachhaltigkeit rein aus dem Negativen heraus gedacht wird. Predigt man Selbstkasteiung, Verzicht und die Angst vor der ganz bald drohenden Apokalypse, bringt das ähnlich viel wie das Leugnen der Klimakrise. Berners-Lee sagt, er ist jetzt optimistischer als noch vor zehn Jahren, weil der Mainstream der Menschen jetzt endlich aufgewacht sei.

„Los Leute, wir haben’s in der Hand“

Auch Höner setzt auf Signale des Aufbruchs. Sein Motto: „Los Leute, wir haben’s in der Hand!“ Aber liegt die Verantwortung überhaupt in unserer Hand? Oft hört man in Debatten, dass es nicht an der Konsumentenschaft liegen dürfe zu entscheiden, ob nachhaltige Produktion forciert werde oder nicht. Da sei die Politik am Zug, die Unternehmen in die Pflicht zu nehmen.

Einig sind sich Diesenreiter, Höner und Berners-Lee, dass niemand ohnehin schon finanziell benachteiligte Menschen zwingen könne oder solle, zu deutlich teureren Ökoprodukten zu greifen. Wer es sich leisten könne, solle aber seinen Beitrag leisten. Und Politik und Unternehmen seien gleichermaßen für nachhaltigen Fortschritt verantwortlich und müssten dafür sorgen, dass Ökoprodukte eben nicht mehr teurer seien.

Der Dreischritt der Nachhaltigkeit

Dabei geht es um Innovationen, Regionalität und Effizienz. Problematisch findet Diesenreiter hingegen Förderungen für Ökoprodukte – Förderungen, die durch Steuern finanziert werden, die auf Produkte eingehoben werden, deren Herstellung und Transport der Umwelt schadeten. Sprich: Wenn ökologische Produktionsweise von unökologischer abhänge, beiße sich die Katze in den Schwanz. Soziale, ökonomische und ökologische Nachhaltigkeit müssen Hand in Hand gehen, sind sich Diesenreiter, Höner und Berners-Lee einig.

Marie-Therese Mürling und Alice Pfitzner (Recherchen und Video), beide ORF TV Kultur, Simon Hadler (Text), ORF.at

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(Tip von Ingo)