Damit Deutschland bis 2035 CO2-neutral wird, fordert Fridays for Future drastische Maßnahmen. Auch die IEA legt erstmals ein Null-CO2-Szenario vor.
BERLIN taz | Der Ort für die Präsentation war gut gewählt: Im Berliner Martin-Gropius-Bau wird gerade eine Ausstellung der nigerianischen Künstlerin Otobong Nkanga gezeigt. Deren Titel: „So etwas wie festen Boden gibt es nicht.“ Ähnlich klingt das Fazit der KlimaschützerInnen von Fridays for Future, wenn es um Deutschlands Beitrag zur Eindämmung der Erderhitzung auf 1,5 Grad geht. „Weder die Bundesregierung noch die Parteien haben einen Plan zur Einhaltung des 1,5-Grad-Ziels“, sagte FFF-Sprecherin Carla Reemtsma am Dienstag. „Niemand macht überhaupt diesen Versuch.“
Den unternehmen die AktivistInnen nun selbst. Beim Thinktank Wuppertal Institut haben sie die Studie „CO2-neutral bis 2035: Eckpunkte eines deutschen Beitrags zur Einhaltung der 1,5-Grenze“ in Auftrag gegeben. Finanziert hat das die GLS-Bank mit 30.000 Euro. Und herausgekommen ist der Vorschlag für eine radikale CO2-Nulldiät, der „zwar extrem anspruchsvoll, aber grundsätzlich möglich“ ist, wie es von den AutorInnen heißt.
Zwar haben Bundesregierung und EU beschlossen, bis 2050 klimaneutral zu sein – also nicht mehr Treibhausgase in die Atmosphäre zu blasen, als etwa durch Wälder gebunden werden. Doch FFF reicht das nicht aus: Sie orientieren sich an einer Rechnung des „Sachverständigenrats für Umweltfragen“ der Bundesregierung. Dieser hat kalkuliert, dass Deutschland insgesamt nur noch 4.200 Millionen Tonnen CO2 ausstoßen darf, wenn es seinen fairen Beitrag zum 1,5-Grad-Ziel leisten will. Bei etwa 800 Millionen Tonnen CO2-Emissionen jedes Jahr bleibt nicht viel Zeit.
Klotzen statt kleckern schlägt deshalb das Gutachten vor: Statt wie im Schnitt der letzten Jahre den CO2-Ausstoß pro Jahr um 8 Millionen Tonnen zu reduzieren, müssten sie um 60 bis 70 Millionen Tonnen sinken und sich „binnen der nächsten fünf bis sechs Jahre etwa halbieren“. Dazu wären drastische Maßnahmen nötig: etwa ein CO2-Preis von 180 Euro pro Tonne statt 25 Euro ab 2021 sowie ein Ausbau von Wind- und Solarstromanlagen von 25 bis 30 Gigawatt pro Jahr, dreimal so schnell wie geplant. Zudem müsste fast zehnmal so viel Kapazität für grünen Wasserstoff wie angedacht aufgebaut und der Autoverkehr bis 2035 halbiert werden.
Ende für Verbrennungsmotoren ab 2035 gefordert
Während etwa selbst CSU-Chef Söder inzwischen anregt, ab 2035 keine Autos mit Verbrennungsmotor zu verkaufen, wollen die FFF 2035 bereits „einen Großteil der Pkw-Flotte“ aus Elektroautos sehen. Der Forderungskatalog beinhaltet auch, anstatt jährlich ein Prozent aller Gebäude künftig viermal so viele energetisch zu sanieren sowie neue Gas- und Ölheizungen in den nächsten 5 Jahren zu verbieten. Außerdem: „Beendigung des innerdeutschen Flugverkehrs.“
Die Studie solle kein Masterplan sein, sondern zeigen, was möglich und nötig ist, so FFF. Wichtige Fragen werden nur am Rand behandelt: Die zusätzlichen Kosten etwa schätzt das Gutachten auf 100 Milliarden Euro jährlich, Verteilungs- und Wachstumsfragen kommen nicht vor. Auch fehlt die Anbindung an die EU-Politik.
Zudem werden die Pro-Kopf-Emissionen Deutschlands ohne die Berücksichtigung historischer Emissionen berechnet. Aber das Gutachten solle zeigen: „Es ist möglich, in 15 Jahren CO2-neutral zu werden, es fehlt der politische Wille“, meint Reemtsma. Die AktivistInnen erwarteten von allen Parteien im anstehenden Wahlkampf zum Bundestag, „Programme vorzulegen, die mit 1,5 Grad kompatibel sind“.
Unerwartete Hilfe bekommen sie dabei von der Internationalen Energie-Agentur IEA in Paris. Die OECD-Behörde, traditionell ein Fan von Öl, Gas und Kohle, legte am gleichen Tag ihren jährlichen Bericht „World Energy Outlook“ vor – und fügte zum ersten Mal überhaupt ein Szenario bei, wie die Welt bis 2050 CO2-neutral werden könnte. Die ExpertInnen konstatieren durch die Coronapandemie einen „riesigen Schock“ für das Energiesystem: Der Energieverbrauch ist 2020 um 5 Prozent eingebrochen, die Emissionen sind um 7 Prozent zurückgegangen, Investitionen in die Energieindustrie gar um 18 Prozent. Einziger Gewinner: die Erneuerbaren.
IEA: „Die Welt ist weit davon entfernt, genug zu tun“
Aber um 2050 „netto null“ zu erreichen, müsse noch viel passieren, erklärte IEA-Chef Fatih Birol: „Die Welt ist weit davon entfernt, genug zu tun, um die Emissionen entscheidend sinken zu lassen.“ Birol hatte schon öfter an appelliert, die Coronahilfen zum Wiederaufbau für eine grünere Wirtschaft zu nutzen. Jetzt warnt seine Behörde, dass mit einem Weiter-so der bisherigen Infrastruktur aus fossilen Kraftwerken, Industrieanlagen und Autos das Klimaziel verfehlt würde.
Für die CO2-Nullnummer in 2050 bräuchte es „dramatische zusätzliche Handlungen“ in den nächsten zehn Jahren: Minus 40 Prozent CO2-Emissionen bis 2030, der Anteil von Erneuerbaren am Strom müsste von knapp 40 auf 75 Prozent steigen, jedes zweite Auto elektrisch fahren statt wie derzeit jedes vierzigste. „Um Nullemissionen zu erreichen, müssen Regierungen, Energiekonzerne, Investoren und Bürger an Bord sein – und so viel beitragen wie nie zuvor.
( Aus der taz 13.10.20 , siehe hier , Vorschlag Holger)